Hossegor, ein kleines Küstenstädtchen im Baskenland nahe der spanischen Grenze repräsentiert für mich den Atem der Freiheit.
Natürlich kann es sich schon aufgrund seiner exponierten geographischen Lage nicht gänzlich dem Tourismus entziehen, aber verglichen mit den meisten anderen Urlaubsorten hat sich vor allem sein Umland doch noch einen Hauch von Ursprünglichkeit bewahrt.
In dieser Gegend mache ich immer wieder gerne Urlaub, weil es mir bisher nur hier wirklich gelingt, meinen Alltag abzustreifen und meine innere Zerrissenheit für kurze Zeit zu vergessen.
Seltene Momente der Ausgeglichenheit finde ich dann, wenn ich mit nackten Füßen über die sauberen Sandstrände gehen kann, um mich unmittelbar an den Rand der sich brechenden Gischt zu setzen und von dort aufs Meer hinaus zu sehen.
Oder gelegentlich auch dann, wenn ich in einem kleinen Restaurant sitze, das in einem Ortsteil liegt, in dem man hauptsächlich Ortsansässige findet, und in das sich selten einmal ein Urlauber verliert, der kein Franzose ist.
Auf einer kleinen Wanderung hatten meine Freunde und ich durch Zufall dieses Lokal gefunden und beschlossen, dort eine Kleinigkeit zu essen.
Ein kleiner dickbäuchiger Mann outete sich in bescheidener weise als Besitzer des Restaurants und stellte sich freundlich als Pierre vor.
Freundlich und unaufdringlich bot er uns als Vorspeise Austern zu einem unglaublich niedrigen Preis an. In der näheren Umgebung gab es einige große Austernfarmen, sodass die Schalentiere fast überall auf den Märkten und in den Speiselokalen zum festen und kostengünstigen Angebot gehörten.
Freundlich lehnte ich ab.
Eigentlich mag ich keine Austern!
“Du musst einmal im Leben eine Auster probiert haben”, sagte mein Freund, der im Gegensatz zu mir ganz gerne mal was Besonderes aß, wenn es denn sein Geldbeutel zuließ.
Ich schüttelte mich, aber unter seinem massiven freundschaftlichen Druck gab ich schließlich meinen Widerstand auf.
Heute weiß ich nicht mehr, wie ich es geschafft habe, dieses wabbelige Zeug über meine Zunge hinweg zu bugsieren und zum Gaumen zu führen. Ich weiß nur noch, dass es nach Atlantik schmeckte: kühl und salzig.
Der Geschmack war nicht zu unangenehm, doch dieses seltsame Gefühl im Mund ekelte mich und ich war sicher:
Eigentlich mag ich keine Austern!
Es war das erste und einzige Mal, dass ich eine Auster verspeiste. Einmal im Leben mußt Du …, hatte mein Freund gesagt. Und genau das hatte ich nun zum Glück hinter mich gebracht.
Gestern, etwa neuneinhalb Jahre nach dem damaligen Genuss dieser Auster in jenem wunderbaren kleinen Restaurant an der französischen Atlantikküste im Baskenland war ich zum Essen eingeladen. In ein feudales Fischrestaurant in Düsseldorf. Es war ausgesprochen gediegen, bezogen auf das Interieur, bezogen auf die gut funktionierenden Kellner und bezogen auf die dargebotene Auswahl an Speisen.
Alles perfekt, sollte man meinen.
Dennoch hätte ich diesen Laden wahrscheinlich freiwillig nie betreten.
Denn ich fühlte mich nicht wohl, von Kellnern bedient zu werden, bei denen ich vermutete, dass sich hinter ihrer von Erwartungshaltungen aufgezwungenen Steifheit eine Verlorenheit verbarg, die sich auch bei mir in solchen Momenten, in denen ich ausschließlich meinen beruflich gesellschaftlichen Pflichten nachkam, einstellte.
Eine Pflichterfüllung, die meinen Tribut an meinen Selbsterhaltungstrieb bei annähernd 4 Millionen Arbeitslosen darstellt. Ich mag es auch nicht, mich zwischen Leuten zu befinden, mit denen ich nur zusammensitze, weil ich Ihnen geschäftlich nützlich sein könnte oder umgekehrt. Und es fällt mir auch schwer, Konversationen zu führen, die immer dann, wenn sie sich von geschäftlichen Themen weg bewegen, in eine niveaulose Diaspora abgleiten.
Nicht, weil die am Gespräch Beteiligten dumm wären und keine intelligenten Sätze formulieren könnten, sondern weil sie keine Gespräche führen können oder wollen, die mich bewegen. Gespräche, bei denen von allen Seiten vermieden wird, gesellschaftliche oder politische Themen zu streifen, damit nur ja niemand auf den Gedanken käme, man hätte eine Meinung, die zu einer Dissonanz führen könnte und sich schließlich auf die Geschäfte auswirken würde.
Nein, das alles ist wirklich nicht meine Welt. Doch wenn man zu einem sogenannten Arbeitsessen eingeladen wird, bleibt einem in abhängigen Arbeitsprozessen verhafteten Angestellten zumeist nichts anderes übrig, als dem Ruf der Einladenden zu folgen.
Und so saß ich dort gestern Abend mit zwei sich steif präsentierenden Herren zusammen, die dem Unternehmen, für das ich tätig bin, ein Produkt verkaufen wollen, von dem ich nicht weiß, wofür wir es gebrauchen können und bei dem sich die Frage stellt, wozu es überhaupt nützlich ist.
Aber ich prostete den gequält grinsenden Herren, die vielleicht genauso ungern wie ich an diesem Tisch saßen, mit einem Prosecco zu und dachte, dass das einzig Gute an diesem Abend sein würde, dass mein Hunger kostenlos gestillt würde.
Ich ließ meinen Blick durch das Lokal schweifen und sah, dass trotz der überaus horrenden Preise – die aber in jedem Fall gerechtfertigt seien, wie mir die Herren kurz vor dem Betreten des Restaurants unaufgefordert versicherten – alle Tische besetzt waren.
Meine Augen verharrten für kurze Zeit am Nachbartisch.
Vier Herren saßen dort. In jeder Hinsicht gewichtige Geschäftsleute. Das sah man ihnen an. An ihrer Haltung, an ihrer Kleidung und an der Art, wie sie mit den Kellnern umgingen. Die vier waren mindestens zwei Stufen eleganter als wir und sie fühlten sich mindestens vier Klassen wichtiger, als ich. Das merkte man ihnen an.
Ohne zuhören zu wollen, fing ich einige Wortfetzen des Gespräches auf.
Von Umschiften von Aufträgen war die Rede, von Vergrößerung der Absatzchancen und davon, dass Umweltkatastrophen des einen Pech und des anderen Glück sind.
“Tja, was so ein Tankerunglück doch so alles anrichten kann”, sagte einer lachend und prostete den anderen fröhlich zu.
Das Wort Tankerunglück ließ meine Gedanken zu den Nachrichten abschweifen, die ich vor wenigen Stunden im Radio gehört hatte. Es wurde berichtet, dass immer mehr von dem Öl, das seit Tagen aus einem vor der spanischen Küste gesunkenen Tankschiffes austrat, die französische Atlantikküste erreichte und verseuchte. Etwa 200 Kilometer Strand von der spanischen Grenze bis hin zu Arcachon seien bereits betroffen.
Der Verkauf von Austern sei untersagt, da man noch nicht wisse, ob die aus den dortigen Zuchtbänken stammenden Schalentiere belastet seien.
Die französischen Austernzüchter berieten zur Stunde, ob man Spanien wegen des aus ihrer Sicht fahrlässigen Umgangs mit der Tankerkatastrophe verklagen wolle…
Alle diese kurz zuvor gehörten Sätze gingen mir durch den Kopf, während ich einerseits bemüht war, der spröden und langweiligen Konversation an meinem Tisch zu folgen, andererseits spürte, wie mir die im Kontrast zur Reichweite der gehörten Nachrichten stehenden Verhaltensmuster am Nachbartisch den Zorn in die Adern trieben. 😠
Da saßen diese Katastrophengewinnler beim Genuss eben solcher Austern, die nur wenige hundert Kilometer entfernt grade vielleicht zu Millionen vernichtet wurden. Aber sie würden damit kein wirkliches Problem haben. Denn sie würden genügend Geld haben, sich in ein Flugzeug setzen zu können, um ihren Urlaub an einem der wenigen noch nicht Öl verpesteten Strände irgendwo in dieser Welt zu genießen.
Sie könnten im Zweifelsfall in einen Hubschrauber steigen, um sich zu irgendeinem Restaurant an irgendeinem Ort der Welt fliegen zu lassen, wo sie sich den Genuss der frisch aus dem Meer geernteten Schalentiere zu Gemüte führen würden.
Ich dagegen werde noch nicht einmal mehr eine vierzehnstündige Autofahrt an die fantastischen Strände der französischen Atlantikküste machen können oder wollen, weil diese ihren unbefleckten Reiz verloren haben.
Ich begutachtete die Weinkarte im schweren Ledereinband, die mir von einem Kellner im Pinguinkostüm gereicht wurde.
Meine Gastgeber überließen mir die Wahl des Weines. Der einzige den ich kannte, war jener, der auf der Karte ganz oben stand und am wenigsten kostete.
Es war ein Weißwein, den ich im Sommer 1993 mit meinen Freunden in jenem kleinen Restaurant in Hossegor getrunken hatte.
Nur kurz flackerten kleine Erinnerungsfetzen an den lange zurück liegenden Abend vor meinem geistigen Auge auf. Sie verloren sich jedoch sehr schnell bei einem Blick auf die Gesichter meiner Tischnachbarn, die sich ganz offensichtlich um den Genuss eines teuren Weines, den sie nicht selber bezahlen mußten, geprellt fühlten. Doch der entsetzte Gesichtsausdruck der Beiden versteckte sich schnell wieder hinter den bekannten Freundlichmasken.
Während die Vorspeisenkarte gereicht wurde, hörte ich lautes Austernschlürfen am Nachbartisch.
Ich wusste, dass der Kellner weder etwas für seinen Aufzug, noch für seine überkorrekte Haltung konnte, da er ja nur eine abhängige Marionette in diesem Theater war.
Aber er steigerte den Grad der sich tief in mir aufbauenden Aggressivität, die zusätzlich von der einsetzenden Wirkung des Genusses des bereits dritten Glases Weins genährt wurde.
“Sechs Austern” war die erste Position auf der Vorspeisenkarte. Der Preis hierfür entsprach etwa demjenigen, welchem ich üblicher Weise für ein ganzes Menü auszugeben bereit war.
Eigentlich mag ich keine Austern!
Doch irgendwie muss mich der Teufel geritten haben. Ohne auch nur ein weiteres Gericht auf der Speisekarte eines Blickes zu würdigen, bestellte ich sechs der Meeresfrüchte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, dass die wichtigtuerischen Herren am Nachbartisch gerade Hummer serviert bekamen.
Mir drängte sich ein Bild auf, das ich irgendwann einmal im Fernsehen gesehen hatte. Von einem Hummer den man zubereitete indem man ihn lebend in kochend heißes Wasser warf.
Irgendwie passte das zusammen: dieses Bild der gequälten Kreatur umrahmt von konzentrierter Arroganz dieser gewissenlosen Geschäftemacher.
Nicht, dass ich den Typen ein ähnliches Schicksal wünschte! Oder vielleicht doch? 😢
Es fiel mir von Sekunde zu Sekunde schwerer, meine weingeschwängerten Aggressionen zu unterdrücken.
Inmitten der weiterhin gepflegten Nichtkonversation an unserem Tisch wurde mir meine Vorspeise gereicht.
Ohne große Umschweife beförderte ich den Inhalt der ersten Auster in meinen Mund. Die beigelegten Zitronenstücke ignorierte ich, denn ich wollte den Geschmack pur erfahren. Sie schmeckte wie damals. Nach Atlantik: kühl und salzig!
Plötzlich lief vor meinem inneren Auge ein Spielfilm ab, der mich neuneinhalb Jahre zurückversetzte, an jenen kleinen Ort in der Nähe der spanischen Grenze.
Ich saß in dem netten französischen Restaurant inmitten meiner Freunde.
Wir genossen den kühlen billigen Wein und spürten, wie er in unseren von Wanderung und Hitze ausgemergelten Körpern schon nach wenigen Schlucken eine sanfte Schwere auslöste.
Langsam schlürfte ich den Inhalt meiner zweiten Auster. Die sanfte Schwere, die uns umfasste, versetzte uns in eine euphorische Stimmung.
Wir ließen noch einmal alle schönen Dinge die wir an diesem Tag erlebt und gesehen hatten, an uns vorbeiziehen. Einer schwärmte von den weiten sauberen Sandstränden, über die wir in Barfuß kilometerweit gelaufen waren. Ein anderer von den sich endlos lang hinziehenden Pinienwäldern, die sich über weite Strecken parallel zur Küste hinzogen.
Mich selber beeindruckte am meisten der permanent in der Luft liegende Duft nach Pinien und Meer.
Während des Erzählens und Schwärmens spürten wir noch einmal den feinen Sand unter den Füßen und schmeckten die salzgeschwängerte Luft.
Nachdem ich ein ganzes Glas Wein zwischen die zweite und dritte Auster in meinen Magen schüttete, machte ich mich an den Inhalt des nächsten Schalentiers.
Pierre hatte eine Schallplatte von Edith Piaf aufgelegt. Die Musik war eindringlich und melancholisch und unsere Stimmung schlug um.
Wir unterhielten uns über die Demonstration spanischer Fischer, in die wir einen Tag zuvor bei einem Tagesausflug nach San Sebastian hineingeraten waren.
Sie protestierten dagegen, dass sie nach der Tankerkatastrophe in Nordspanien im Winter 1992 auch ein halbes Jahr später noch immer keine Entschädigung erhalten hatten.
Wir waren erschüttert gewesen und als Pierre wieder an unseren Tisch kam, um uns eine weitere Flasche Wein zu bringen, fragten wir ihn, ob ihn die Katastrophe auch betroffen habe.
Er schüttelte den Kopf.
Für die spanischen Fischer sei das sehr schlimm gewesen, sagte er, aber Spanien sei Spanien und Frankreich sei Frankreich. “C´est la vie.”
Schon damals war ich darüber entsetzt, dass Leid zumeist nur dann als solches empfunden wird, wenn es sich vor der eigenen Haustür abspielt.
Hätte es Pierre ebenso wenig tangiert, wenn er gewusst hätte, dass auch Anfang 2003 noch nicht alle Betroffenen in ausreichendem Maße entschädigt worden waren?
Und wenn er geahnt hätte, dass sich zum gleichen Zeitpunkt erneut in Nordspanien eine Katastrophe abspielte, die bis vor seine eigene Haustür gespült werden sollte?
Ich nahm meine Tischnachbarn nur noch schemenhaft wahr, während ich die vierte Auster verspeiste.
Der Atlantik begann eine Spur zu kühl und zu salzig zu schmecken. Es war, als ob ich zu viel Salzwasser schluckte und sich der Ozean eisig in meinem ganzen Magen ausbreitete.
Ich fürchtete mich davor, die Augen zu schließen, weil ich merkte, wie mich jenes Gefühl überkam, das mich immer dann befiel, wenn ich mich zuvor lange auf den schaukelnden Wellen im Meer bewegt hatte und danach mit geschlossenen Augen am Strand lag.
Dann breitete sich ein Schwindel in mir aus und die Rebellion meines Magens war nur dadurch zu vermeiden, dass ich die Augen wieder öffnete…
…den Inhalt der fünften Auster konnte ich nur noch mühsam mit einem großen Schluck Wein herunter spülen.
Stand da noch die dritte Flasche vor uns, oder war es doch schon die vierte?
In diesem Augenblick hatte ich jeglichen Bezug zur Realität verloren.
Ich hörte das jetzt bedrohlich klingende Rauschen des Meeres und das schrille Kreischen der Möwen.
Mein Magen begann nun auch bei geöffneten Augen zu rebellieren. War es die noch immer aufgestaute Wut, die ihn dazu veranlasste oder die heftige Mischung aus Meeresfrüchten und Weißwein?
Es war schwer zu beurteilen.
Nur unter Überwindung größten inneren Widerstandes gelang es mir, die sechste Auster hinunter zu schlingen.
In dieser Sekunde spürte ich, wie der feine Sand des Strandes unter meinen Füßen zu kleben begann.
Ölklumpen breiteten sich kalt und eklig zwischen meinen Zehen aus. Das Meer spülte tote Fische mit glasigen Augen an den Strand. Und in einiger Entfernung humpelten ölverklebte Möwen vor mir her.
Der Himmel hatte sich verdunkelt. Der Strand war von schwarzen Ölbänken durchzogen und menschenleer.
Übelkeit breitet sich in mir aus…
Plötzlich war ich zurück in der Realität und sah die Kerle am Nachbartisch lachend und feixend große Stücke des vor ihnen liegenden Hummers verspeisen.
Für mich waren sie in dieser Sekunde mitverantwortlich für das Unglück, das sich zur gleichen Zeit an diesen einstmals so wunderbaren Stränden in der Nähe von Hossegor abspielte.
Auch, wenn sie nicht persönlich verantwortlich waren, aber nicht einmal das konnte man mit Sicherheit ausschließen, so hatte ich doch aus ihren Gesprächen heraus gehört, dass sie in irgendeiner Form profitierten.
Und selbst wenn dieses nicht der Fall gewesen wäre, so war doch zumindest klar, dass sie die Katastrophe in keiner Weise belastete. Und allein dieses machte sie in diesem Augenblick für mich zu Tätern. Zu Mördern an Natur, Kultur und an unbefleckter Schönheit. Zu Zerstörern von persönlichen Schicksalen und Urlaubsfreuden.
Ich fühlte mich trotz der in mir brodelnden Übelkeit stark und mutig.
Meine blöd glotzenden Tischnachbarn ignorierend, stand ich auf und wankte schwerfällig zum Nachbartisch herüber.
Ich lehnte mich vornüber und stützte die Hände auf den Tisch.
“Ich will ihnen mal eines sagen”, begann ich meine Rede, die dazu führen sollte, die Arroganz dieser Typen zumindest temporär zu brechen und ihnen den restlichen Abend zu versauen.
Doch als ich den halb zerpflückten Hummer vor mir liegen sah, bekam ich plötzlich kein Wort mehr heraus.
Mein Magen rebellierte so heftig, dass sich sein Inhalt, ohne dass ich noch eine wirkliche Chance zu Reaktion hatte, über den gesamten Tisch ergoss.
Ich schloss die Augen weil ich mir nicht ansehen wollte, was ich angerichtet hatte. Nicht, weil es mir peinlich gewesen wäre, sondern weil ich mich dafür schämte, dem sowieso schon malträtierten Hummer auch das noch am Ende angetan zu haben.
Ohne weitere Reaktion kehrte ich zu meinem Tisch zurück, an dem zwei Herren saßen, die gerne unsichtbar geworden wären, um nicht mit mir in Verbindung gebracht zu werden.
Sie stierten mich entsetzt an.
Als ich in ihre Augen sah, waren meine Gedanken plötzlich wieder ganz klar.
Ich zuckte die Schultern und sagte:
“Eigentlich mag ich keine Austern!”
Ohne weiteren Gruß verließ ich das Lokal.
Ich hatte das Gefühl, dass der eiskalte Wind, der mir von allen Seiten entgegen schlug, meine Seele wärmte.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich wieder so etwas wie Stolz in mir.
Vor etwa einer Stunde bin ich mit einem heftigen Kater aufgewacht. Ich weiß nicht, welche Konsequenzen mein gestriger Auftritt für mich haben wird.
Aber es ist mir auch egal.
Ich weiß nur, dass ich diesen Sommer wieder in Hossegor Urlaub machen werde.
Auch dann, wenn die Strände ölverpestet sind. Und sei es nur, weil ich mir den Grad meiner Sehnsucht nicht mehr von anderen diktieren lassen will. Und weil mir eines klar geworden ist:
Eigentlich mag ich Austern: Lebend und fernab jeder Speisekarte!
The End!
Ralf Theinert 2003