Das kleine Büdchen bei uns um die Ecke hat die letzten zwanzig Jahre, ohne große Wunden, überstanden.

Ein paar Narben hat es zwar davongetragen, das Angebot ist im Wirtschaftswunderland etwas technischer geworden und längst erfaßt mich nicht mehr die stumme Erregung, die mich damals noch packte, wenn ich beabsichtigte, für zwanzig Pfennig eine Wundertüte zu erstehen.

Das Büdchen hat seine Mystik verloren. Und doch ergreift mich, wenn ich es betrete, noch immer ein Gefühl von stiller Bewunderung.

Vielleicht ist es, weil mich in diesem Moment Demut erfüllt, vor der Leistung, sich in all den Jahren gegen eine Übermacht von Supermärkten zu wehren, sich gegen alle Trends dieser Zeit zu behaupten, ohne sein klares unkompliziertes Gesicht zu verlieren.

Möglicherweise liegt es aber auch daran, daß meiner Seele in diesen Momenten ein Spiegelbild meiner eigenen Entwicklung präsentiert wird.

Welche Ziele, welche großen Ideale hatte ich mir damals gesetzt?

Ehrlichkeit und Humanität sollten meine Leitfäden fürs Leben sein. Unaufrichtigkeit und Diskriminierung wollte ich mit stolzem, aufrechtem Gang bekämpfen. Was ist davon letztlich übrig geblieben?

Das Leben hat mich angepaßt, denke ich mir, fast um mich zu trösten. Und doch spüre ich, daß dies nur die halbe Wahrheit ist. Auch ich trage meinen Teil dazu bei, wenn es gelingt, mein Herz zu erhärten und immer häufiger in Zweifelsfragen meinen Kopf gewinnen zu lassen.

Wenn ich durch die Gänge des Büdchens streife, fühle ich oft, daß noch etwas in mir ist, daß mich hoffen läßt, daß mein Herz noch immer an der richtigen Stelle schlägt, wenn ich es nur lasse. Kaum habe ich allerdings seine traute anheimelnde Atmosphäre verlassen, fängt mich der graue Alltag wieder ein. Packen mich Hetze und Konkurrenzkampf, erfaßt mich das Streben nach einem Schritt nach vorn, von dem ich doch nicht weiß, ob es nur ein Schritt zurück sein wird.

Besonders deutlich erfahre ich diese Gegensätze immer in der Vorweihnachtszeit, wenn die Regale mit allerlei Tand und unnützem Zeug gefüllt sind. Noch immer hat dieser Zauber eine fast magische Wirkung auf mich.

Da liegen Engel aus Holz, Gips und Papier, da blitzten Christbaumkugeln in allen erdenklichen Farben, da sind kleine Päckchen mit Lebkuchen und Spekulatius aufgeschichtet und man bildet sich ein, den Duft gebackener Weihnachtskekse und bruzzelnder Bratäpfel in Omas guter Stube zu riechen.

All dies ist so liebevoll und überlegt zwischen all dem Alltagskram, wie Konservendosen und Gurkengläsern plaziert, von dessen Verkauf ja letztlich dieser Laden und sein Besitzer mehr schlecht als recht leben, daß nicht die Existenz dieser Nebensächlichkeiten und noch nicht einmal das Vorhandensein der bunten Videospiele und der Nikoläuse auf Rollschuhen das warme Gefühl, das mich hier umfängt, zu vertreiben vermag.

In der letzten Woche, es war der Dienstag nach dem zweiten Advent 1991, öffnete ich die Tür dieses Ladens und trat ein, ohne genau zu wissen, was ich eigentlich in ihm wollte.

Vielleicht würde ich eine Zeitung kaufen oder aber eine Süßigkeit erstehen, die mir dann auf meiner Fahrt zur Arbeit helfen würde, die Zeit zu vertreiben.

Tief in mir hatte ich aber die Hoffnung, daß sein Besuch jene Stimmung in mir entfachen würde, die ich immer dann zu haben wünschte, wenn es auf Weihnachten zuging.

Ich sehnte mich zurück nach jenen Jahren, an denen der Heilige Abend der unbestrittene Höhepunkt des Jahres, ja, wo jeder Tag, an dem er näher rückte, ein kleiner Feiertag für mich war.

Es war die Zeit, in der nichts aber auch gar nichts eine höhere Priorität besaß, als der Gedanke an fröhliche Gesichter unter unserem Christbaum, an Geschenke, Schlesische Weihnachtswürstchen und Mohnklöße.

Nach diesem harten Wochenende, das ich zum Teil mit Arbeit, die ich mir mit nach Hause gebracht hatte, zum Teil mit dem in den letzten Jahren immer wiederkehrenden Streit über die Modalitäten des Weihnachtsfestes (die aus den Überlegungen erwuchsen, wann man wo mit wem feiern sollte und wen man um welche Zeit besuchen würde) verbracht hatte, wollte ich einfach für ein paar Minuten aus der Realität fliehen, wollte ich etwas in mir erzwingen, was mich wieder einmal an die Wurzeln meiner Kindheit zurückführen sollte.

Wohlige Wärme schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Ich lockerte etwas den um meinen Hals gelegten Schal und vernahm leise und nur unbewußt das zarte Klingeln des Glöckchens am Türrahmen. Etwas mißmutig, längst nicht mehr mit der Herzlichkeit vergangener Jahre begrüßte mich Herr Peters, der Besitzer des Ladens.

Seine Haare waren im Gleichklang mit den einst weißen Wänden des Ladens grau geworden. Die Geschäfte gingen schlecht und dies nicht erst seit gestern, sondern vielmehr schrittweise Jahr um Jahr, mehr und mehr.

Längst kauften immer mehr Leute das, was sie brauchten, im Supermarkt um die Ecke, wo das Angebot größer und die Preise kleiner waren, als sie Herr Peters selbst bei ausgeklügelster Einkaufspolitik hätte gestalten können.

Auch ich war ja nur noch ein seltener, wenn auch immer wiederkehrender Gast hier und hatte mich längst dem Kaufverhalten meiner Mitbürger angepaßt.

Noch eine Spur freundlicher, als gewöhnlich, grüßte ich zurück, vielleicht in der Hoffnung, Herrn Peters damit etwas Mut zu machen und ihn aufzuheitern. “Heute”, dachte ich, “werde ich etwas mehr kaufen als sonst” und gaukelte mir vor, damit den langsamen Zerfall des Ladens stoppen oder doch zumindest für eine Zeit lang aufhalten zu können.

Ich blickte mich um. Alles war wie früher. Trotz allen Kummers hatte Herr Peters bei der Gestaltung der Weihnachtsregale die gleiche Sorgfalt walten lassen, wie all die Jahre zuvor. Man spürte beim Anblick der Auslagen, mit welcher Hingabe dieser Mann sein Geschäft betrieb. So, als ob es sein Lebenswerk wäre.

Ich wartete darauf, daß mich jenes Gefühl überkommen würde, nachdem ich mich so sehnte und versuchte mich an früher zu erinnern.

An die schönen Zeiten, in denen ich mit meinen Freunden diesen Laden durchstrolchte und in denen wir nicht immer Lieblingsgäste von Herrn Peters waren. Da gab es manches böse Wort, wenn wir über die Stränge schlugen. Und doch verband uns über all die Jahre ein Gefühl warmer, wenn auch distanzierter, Verbundenheit.

Krampfhaft versuchte ich, mein Gefühlsbarometer auf den von mir gewünschten Stand zu bringen, doch es schien mir heute nicht zu gelingen. Vielleicht waren es noch immer die Gedanken an die gestrigen Auseinandersetzungen mit meiner Frau, vielleicht waren es die Probleme, die in weniger als einer Stunde an meinem Arbeitsplatz auf mich zukommen würden, die meine Gefühlswelt unbewußt tief in mir bestimmten und weder Kopf noch Herz für Schöneres freigaben.

“Wenn etwas Schnee fallen würde”, dachte ich, “vielleicht wäre es dann leichter” und war mir doch bewußt, welche Armut es bedeutete, auf einen solchen Reiz angewiesen zu sein.

Herr Peters hatte längst wieder seinen Blick in der Zeitung gesenkt, die auf dem kleinen verbrauchten Tisch neben einer dampfenden, duftenden Tasse Kaffee vor ihm lag. Er hatte Vertrauen zu mir und wußte, daß es nicht notwendig war, auf mich aufzupassen.

Langsam schlenderte ich von Regal zu Regal, nahm hier eine Tafel Schokolade, dort eine Tüte Spekulatius in die Hand und verglich die Preise mit denen, die ich noch vorige Woche im Supermarkt gezahlt hatte.

“Fast fünfzehn Prozent mehr” dachte ich und beschloß dennoch, die Tüte Spekulatius in den Korb zu legen, den ich mir am Eingang genommen hatte.

Einige Meter weiter, in einer kleinen Nische, war ein Ständer mit Zeitungen und Zeitschriften aufgebaut. Hier wanderte mein Blick von den Klatschspalten der Tagespresse zu den Überschriften der Fachzeitschriften, welche hier in weitaus geringerer Auswahl als in gutsortierten Zeitschriftenläden auslagen.

Dennoch stöberte ich gerne hier herum. Denn zum einen war die von Herrn Peters getroffene Selektion sehr gewissenhaft auf die “wichtigsten” Zeitschriften zugeschnitten, zum anderen fand ich nirgendwo so sehr wie hier die Muße, aber auch die Toleranz des Inhabers, um einen wesentlichen Teil des Angebotes zu lesen, ohne gleich einem Kaufzwang ausgeliefert zu sein.

Ich hatte noch etwas Zeit und nahm ein Magazin in die Hand, dessen Schlagzeile mein Interesse geweckt hatte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür.

Ein kalter Windhauch strömte herein und das kleine Glöckchen meldete die Ankunft eines Kunden. Zunächst hatte ich nur kurz aufgeblickt, um mich dann wieder in den angelesenen Artikel zu vertiefen.

Doch irgend etwas hatte mich aufmerksam gemacht und ließ mich meinen Blick in der nächsten Sekunde erneut erheben. Der Fremde hatte mich zutiefst, wenn auch in eher negativer Weise beeindruckt.

Für die Jahreszeit und die frostigen Temperaturen war er eher spärlich bekleidet. Er trug eine graue, etwas schmuddelig wirkende Jacke, die intuitiv das Gefühl aufkommen ließ, daß ihr jetziger Träger das Ende einer längeren Kette von Besitzern war und die Antwort auf die Frage offen ließ, ob es sich bei ihm auch um den Eigentümer handelte.

Auch die unmoderne, mit einem weiten Schlag versehene blaue Hose und die braunen ausgetretenen und abgetragenen Schuhe, die er trug, ließen vermuten, daß der Mann zur Zeit nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens wandelte, ja vielleicht nie gewandelt war.

Am meisten zog mich jedoch sein Gesicht in Bann.

Unter halblangen grauen sorgfältig zur Seite gekämmten Haaren blinzelten zwei braune aufgeregte und doch eine seltsame Ruhe und Müdigkeit ausstrahlende Augen hervor.

Eingefallene, nur unsorgfältig rasierte Wangen umrahmten eine ebene Nase und einen nur mühevoll lächelnden Mund.

Sein Teint war dunkel und identifizierte ihn eindeutig als Südländer unbestimmter Herkunft. Nur selten fängt man die Merkmale eines Mitmenschen in Sekundenbruchteilen so intensiv auf, wie ich es in diesem Moment unbewußt und ohne erkennbaren Grund tat.

“Tag”, grüßte er kurz und ohne sichtbare Emotionen.

Herr Peters hatte ihm zugenickt, blickte allerdings hierbei noch mißmutiger drein als bei mir zuvor, und aus seinem kritischen Gesichtsausdruck glaubte ich zu lesen, daß auch ihm dieser Mann zum ersten Mal begegnete.

Keine Sekunde ließ er den Blick von dem Fremden, als dieser langsam an den Regalen entlang schritt, dies und das in die Hand nahm, kurz begutachtete und wieder zurücklegte. Man konnte dass unbändige Mißtrauen, das dem Fremden von Herrn Peters entgegenschlug, fast körperlich spüren.

Die Atmosphäre war zum Schneiden gespannt.

Der Fremde hatte meine Anwesenheit nicht bemerkt, da er einen Weg wählte, von dem aus ihm der Blick in die Nische, in der ich mich befand, fast vollständig verwehrt war.

Ich dagegen blickte durch die um mich herum aufgebauten Zeitungsständer hindurch und verhielt mich ruhig.

“Warum bist Du so mißtrauisch?”, fragte ich mich, “nur, weil er ein Ausländer ist?” und versuchte, meine Vorurteile zu bekämpfen.

Dennoch war es mir nicht möglich, meinen Blick von ihm zu lassen. Als erwartete, ja erhoffte ich förmlich, daß sich meine Vorurteile in irgendeiner Weise bestätigen würden.

Der Mann schritt nun langsam auf Herrn Peters zu. Er hatte zuvor ein kunststoffverpacktes, billiges Brot aus dem Regal genommen, das er nun zum Zahlen auf die Theke legte.

Das Gesicht von Herrn Peters hatte diesen seltsam hochmütigen mitleidigen Ausdruck angenommen, den man häufig in solchen Situationen beobachten kann. Er taxierte den Fremden, als wolle er fragen, ob er denn wirklich in der Lage sei, zu bezahlen.

Herr Peters nannte den Preis und öffnete die Hand in Erwartung des ihm zu offerierenden Betrages. Der Fremde griff in seine Jacke und holte einen alten, speckigen Geldbeutel hervor, deren Inhalt er neben das Brot auf die Theke schüttete.

Soweit ich es aus meiner ungünstigen Position sehen konnte, handelte es sich hierbei um eine kleine Anzahl von Münzen. Aus diesen suchte der Fremde den ihm genannten Geldbetrag heraus und übergab ihn an Herrn Peters. Der öffnete die Kasse und als er noch dabei war, das Geld einzusortieren, sagte der Mann in gebrochenem Deutsch: “Bitte, habe vergessen Margarine, Du mir sagen, wo ich finde”.

Herr Peters winkte ab, drehte sich um und holte dem Fremden aus einem Regal, das nur wenige Meter von ihm entfernt war, ein Päckchen Margarine.

Er wird sich später noch oft gefragt haben, was ihn in diesem Moment dazu brachte, die Kasse offen und ungeschützt stehenzulassen. Denn kaum hatte ihm Herr Peters den Rücken zugewandt, beugte sich der Fremde schnell und ohne zu zögern über die Kasse, griff hinein und stopfte hastig etwas in die Tasche, von dem ich nicht sehen konnte, um was es sich handelte.

In den zurückliegenden Sekunden hatte mich eine unbeschreibliche Unruhe erfaßt, ich spürte, wie meine Hände feucht wurden und wie mein Blick, ohne auch nur einen Moment an einem Punkte zu verharren, zwischen den Beteiligten hin und her schwenkte.

Hatte Herr Peters etwas bemerkt? Wie verhält sich jemand, der sich gerade eines Verbrechens schuldig gemacht hatte?

Mich erstaunte, daß die Szenerie sich fortsetzte, ohne daß die Welt eine Sekunde lang darüber nachzudenken schien, in Empörung zu erstarren. Diesem Molukken – ja es war dieses vorurteilsbehaftete Schimpfwort, das mir in diesem Moment durch diesen Menschen Personifizierung zu finden schien – wurde das gewünschte Paket Margarine ausgehändigt als ob nichts geschehen wäre!

In unglaublicher Dreistigkeit griff dieser Kerl in seine Tasche und legte, wie schon zuvor, etwas Kleingeld auf die Theke!

Ich war erschüttert. “Typisch Ausländer”, dachte ich, obwohl ich mich ein Leben lang davor gesträubt hatte, Menschen in jeglicher Art vorzuverurteilen.

Wie ein verhinderter Racheengel sprang ich plötzlich und ohne Vorwarnung aus meinem Versteck hervor, zeigte mit meinem Finger auf dieses verkommene Subjekt und rief unter Zuhilfenahme tiefster Selbstgerechtigkeit:

“Dieser Kerl hat Sie bestohlen.”

Herr Peters ließ nun seine jahrzehntelange von permanenter Wachsamkeit geprägte Erfahrung aufblitzen. Blitzschnell hatte er den Arm des Fremden ergriffen und stieß – zu meinem Erstaunen – auf nicht die geringste Gegenwehr.

Der alte Mann schien vielmehr in sich zusammenzusinken, seine Knie zitterten sichtbar und der Rücken krümmte sich wie von Zenterlasten erdrückt. Noch immer seinen Arm haltend forderte Herr Peters ihn auf, das unrechtmäßig Erworbene herauszurücken.

Es schienen Minuten zu vergehen, ehe der Fremde mit schwerfälliger Bewegung seinen Arm hob, seine Hand langsam in die Tasche seiner verschlissenen Hose sinken ließ und langsam einen Geldschein herausbeförderte, der grün gefärbt war und den Wert von 20,00 DM zu erkennen bot.

Unbeteiligt und wie aus weiter Entfernung vernahm ich die Worte, “aha, da haben wir also einen kleinen Dieb ertappt”, die Herr Peters etwas höhnisch ausstieß. “Da wollen wir doch gleich einmal hören, was die Polizei dazu zu sagen hat?”

Mit einer Hand immer noch den Arm des alten Mannes umklammernd griff er nun zum Hörer des Telefons, das gleich neben seiner Kasse stand.

Mein Gemütszustand hatte sich unterdessen deutlich gewandelt.

Fassungslos – so scheint es mir in der Rückbetrachtung – starrte ich auf den 20,00 DM-Schein, den der Alte immer noch in seiner zitternden Hand hielt.

“20,00 DM”, dachte ich und blickte ungläubig auf die Kasse, die nach wie vor offen stand, und mir zeigte, daß es leichter gewesen wäre, einen 50,00 DM- oder gar 100,00 DM-Schein zu entwenden, da die Fächer der Kassenlade, die diese Scheine enthielten, deutlich leichter zu erreichen waren.

Von der ersten Sekunde meines Auftretens aus meinem Versteck bis zu diesem Moment hatte der Fremde seinen Blick auf mir ruhen lassen. Er suchte meine Augen und fand sie. Ich versuchte, ihnen auszuweichen, denn ich spürte, daß mich dieser Blick tiefer beschämte als alles, was ich in all meinen zurückliegenden Jahren erfahren hatte.

Die Last, die ich noch soeben auf den Schultern des Fremden wähnte, schien sich plötzlich auf unser beider Rücken zu verteilen. Ich spürte intuitiv, daß dieser Mann in Not war und fühlte mich nun ertappt, als ein im Verborgenen lauernder Denunziant, der einen alten Mann in noch tiefere Not und Demut stieß.

Wenngleich sich die Gesichtsfarbe des Mannes deutlich verfärbt und sein Teint nun fast die Helligkeit dessen eines Mitteleuropäers angenommen hatte, hatte sich die gesamte Haltung des Fremden in einer – oberflächlich gesehen – unnachvollziehbaren Weise erneut verändert.

Unbeugsamen Stolz erkannte ich in seinen Augen als mein verschämter Blick den seinen noch einmal für den Bruchteil einer Sekunde traf.

Trotz zitternder Knie hatte sich sein Oberkörper deutlich aufgerichtet, fast so wie bei einem Menschen der zum Tode verurteilt den letzten Weg zum Schaffot antritt und trotzdem kein Zeichen der Angst zeigt, um seine Widersacher ein letztes Mal zu beschämen.

Mir gingen die Karl-May-Romane durch den Kopf, die ich in meiner Jugend verschlungen hatte und erinnerte mich an die Hochachtung, die ich vor den Helden – egal, ob rot oder weiß – verspürte, wenn sie ohne Schmerzbekundung jegliche Marter am Pfahl ertrugen. Deren Seele gebar, während der Körper starb.

Auch Winnetou wäre in unseren Augen ein Ausländer gewesen, während er in den Armen seines weißen Blutsbruders mit bewegenden Worten in das Reich des großen Manitus herübertrat. Und verehren wir nicht auch einen Robin Hood, der in den Wäldern von Sherwood Forest sein (Un)wesen trieb, obwohl oder vielleicht gerade, weil er mit seinen Diebes- und Raubzügen eine Umverteilung von Besitztümern zugunsten der Armen erzwang?

Ich weiß nicht, ob mich all diese Gedanken wirklich innerhalb von Bruchteilen von Sekunden durchströmten oder ob nicht vielmehr meine jahrzehntelang erworbene Grundhaltung blitzartig mein Bewußtsein erfaßte und mich reflexartig zu den nun folgenden Handlungen trieb.

Oder war es vielleicht sogar eine Kraft, die außerhalb jeglicher Sinneswahrnehmung lag?

Herr Peters stand immer noch vor mir. Den Telefonhörer in der einen, den Arm des Fremden in der anderen Hand. Wie aus einer tiefen Trance zurückkehrend nahm ich nun seine Worte wahr: “Ja bitte, ist dort das Polizeirevier?…”

Noch ehe er etwas hinzufügen konnte, war ich einen Schritt vorgetreten und hatte meine Hand auf die Telefongabel gelegt. Die Verbindung wurde abruppt unterbrochen.

Ungläubig starrte mich Herr Peters an. “Bitte”, hörte ich mich sagen, “lassen Sie ihn gehen, er wird Ihnen das Geld zurückgeben.”

Der Fremde ließ seinen Blick von Herrn Peters, der stumm und fassungslos vor uns stand, zu mir wandern. Er sah mir lange und tief in die Augen.

Dann nickte er müde, hob seine Hand und händigte Herrn Peters den 20,00 DM-Schein aus. Herr Peters hatte unterdessen den Arm des Fremden freigegeben. Er legte, noch immer schweigend, das Geld zurück in die Kasse und verschloß diese, während mich sein nachdenklicher und fragender Blick traf.

Wer nun aber glaubte, daß der Fremde hastig und schnell das Weite suchen würde, sah sich getäuscht.

Noch einmal nickte er mir kurz zu, wandte sich fast quälerisch langsam der Tür zu und setzte mühevoll einen Schritt vor den anderen. Einen Augenblick zögerte ich. Dann ergriff ich das Brot und die Margarine, die er auf der Ladentheke zurückgelassen hatte und eilte ihm nach.

Es bereitete keine Mühe, ihn einzuholen und noch bevor er die Türklinke in die Hand nahm, stand ich vor ihm. Ohne Scheu blickte er mich an, und mir schien als könne er in diesem Augenblick die Tiefe meiner Seele ergründen.

Ich händigte ihm Brot und Margarine aus, griff in meine Hosentasche, zog einen 20,00 DM-Schein hervor und schob ihn in seine Jackentasche.

Selten zuvor hatte ich in den Augen eines Menschen tieferes Glück sich spiegeln sehen.

Sanft nahm der Fremde meine Hand, drückte sie kraftvoll und fast zärtlich zugleich und ich spürte, daß ihn tiefste Dankbarkeit ergriffen hatte. “Gott sei mit Dir”, sagte er in völlig ungebrochenem deutsch und war in der nächsten Sekunde meinen Blicken entschwunden.

Ich ging zurück zu Herrn Peters, der das Schauspiel stumm betrachtet hatte.

“Warum?” stand in seinem Blick geschrieben, doch er sprach es nicht aus, vielleicht spürend, daß auch ich ihm keine Antwort darauf würde geben können. Wir wußten, daß es in den folgenden Jahren ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns bleiben würde. Ich zahlte meine Spekulatius und die Margarine des Fremden.

Herr Peters zog die Augenbrauen hoch und zuckte noch einmal die Achseln. Mit einem freundlichen Gruß verabschiedeten wir uns voneinander.

Meine Blicke wanderten gen Himmel. Nein, es sah immer noch nicht nach Schnee aus. Aber ich wußte, ich würde ihn dieses Jahr nicht brauchen:

Weihnachten konnte kommen!

Ralf Theinert 1998